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Das schönste Spiel der Welt

Molotow auf ex

Erschienen in den Programmheften  der Weltranglistenturniere European Masters und German Masters, Januar 2020


Früher war alles wilder. Nicht nur backstage bei Led Zeppelin oder in der Boxengasse der Formel eins. Auch im modernen Snooker ging es mit würzigen Getränken, gezinkten Karten und mutigen Mädchen noch vor wenigen Jahrzehnten heiß zur Sache. Die heutigen Akteure sind dagegen die reinsten Mönche, denn das Niveau ist himmelhoch. Kann man es nicht halten, droht man schnell abzustürzen. Vor allem in der Partyzone.


Als die Ära der Holz- und Elfenbein-Bälle Ende des 19. Jahrhunderts zu Ende ging, stieß man im Billard zunächst mit neuartigen Kunststoffbällen aus Nitrozellulose in die Moderne vor. Kleiner Nachteil: Das Material war selbstentzündlich. Bei kräftiger Karambolage zweier Kugeln konnte schon mal ein Funke fliegen, begleitet von einem herzhaften Knall. Die Hersteller notierten in der Folge diverse Beschwerden unzufriedener Kunden. Darunter befand sich auch ein Saloonbetreiber aus Amerikas Westen. Die Geräusche aus dem Billardzimmer seien ihm prinzipiell egal, ließ er wissen. Weniger jedoch der Umstand, dass nach jedem kräftigen Stoß sämtliche Tresenhocker ihren Colt ziehen würden.

 

Keine Panik: Das Motto dieser japanischen Benzin-Trinkhalle hätte auch von Alex Higgins stammen können.

 

Reifenspuren aus Untertürkheim

99 Jahre später ließ Avril Virgo wissen, wie schnell sie mit ihrer Waffe – einem Sportcoupé aus Untertürkheim –  von A nach B zu ziehen versteht. Die Botschaft der Ehefrau von Spitzenspieler John Virgo, längst überlebensgroße Kommentatoren-Legende der BBC, war unmissverständlich: 

„Wenn ich ihn je mit einer anderen Frau erwische, wird man später die Reifenspuren meines Mercedes auf seinem Hemd finden – und auf ihrem. Ich weiß, dass es Groupies gibt. Aber ich gehöre nicht zu denen, die rumsitzen und sich Sorgen machen – ich töte einfach, wenn ich dahinterkomme.“

Eher unfreiwillig aus dem Leben schied hingegen ein Extremsportler aus Melbourne, wie der Daily Telegraph 1979 nüchtern notierte: „Beim Versuch, von der Decke hängend den Snooker-Stoß seines Lebens zu landen, rutschte Raymond Priestley aus der Halterung, fiel kopfüber auf den Betonboden und starb.“

 

„Wo ist denn der Tisch?“
„Och, wir dachten, den bringen Sie mit.“

(Das waren noch Zeiten: Der Veranstalter eines Schauturniers vertraute auf 1,5 Tonnen Holz und Schiefer im Handgepäck von Weltmeister Fred Davis.)

Nach Skandalen und Exzessen in der Snookerszene muss man heutzutage suchen. Gut, der fröhliche Stuart Bingham, Weltmeister 2015, wurde im Herbst 2017 für sechs Monate gesperrt, weil ans Licht gekommen war, dass er noch vor seinem WM-Titel über mehrere Jahre hinweg 37.000 Pfund verzockt hatte. Der Standard-Vertrag der Spieler mit dem Vermarkter World Snooker ist eindeutig: Die Herren dürfen wetten auf was immer sie möchten. Nur nicht auf Snooker. Und vor allem nicht auf die eigenen Partien.

Der vierfache Weltmeister John Higgins fiel 2010 auf ein fingiertes Angebot einer britischen Boulevardzeitung herein, deren ulkig kostümierte Reporter sich als Mitglieder der ukrainischen Wettmafia ausgegeben hatten. Die Herren boten ihm 300.000 Pfund. Er müsse lediglich  in vier Matches jeweils einen ganz bestimmten Frame zur rechten Zeit verlieren. Der "Wizard von Wishaw" ging auf den wackligen Deal ein, um nicht mit Betonschuhen in der Nordsee versenkt zu werden. Higgins wurde für ein halbes Jahr gesperrt und musste zudem 75.000 Pfund Strafe zahlen. 

Richtig bös erwischt hat es indes Stephen Lee. Der begnadete Queue-Virtuose und vierfache Vater wurde als Weltranglistenfünfter wegen siebenfacher Match-Manipulation 2013 zu einer zwölfjährigen Sperre verurteilt – also praktisch zu Berufsverbot. Er darf erst ab seinem 50. Geburtstag wieder mitspielen.

 

Muttersöhnchen mit Seitenscheitel

Aber was ist das alles gegen Alex „The Hurrican“ Higgins, Jimmy „The Whirlwind“ White oder „Big Bill“ Werbeniuk? Higgins, der 2010 im Alter von nur 61 Jahren verstarb, war der unumstritten größte Snooker-Künstler der Siebziger, der bis dato nie gesehene Kringelbälle aufs Tuch zauberte. Nebenbei war er praktisch für alles berüchtigt, was Gott verboten hat. Das leicht erregbare Tennis-Wunderkind John McEnroe wirkte neben ihm wie ein Muttersöhnchen mit Seitenscheitel.

Der britische Komiker Frank Carson beschrieb Alex‘ unberechenbares Temperament, das durchaus im Faustkampf enden konnte, mit den Worten: „Irgendjemand hat ihm einen Molotow-Cocktail zugeworfen, und er hat ihn ausgetrunken.“
Vor seinem ersten Match mit Stephen Hendry soll Higgins dem Jungstar beim Händeschütteln gesagt haben: „Guten Tag. Ich bin der Satan.“

Und dem sechsfachen Weltmeister Steve Davis ließ er ausrichten, dass er Ugandas blutrünstigen Diktator sympathischer fände: „Ehrlich gesagt würde ich mich lieber mit Idi Amin auf ein paar Drinks treffen.“

 

Non-stop-Disco-Dancing

Der britische Sportjournalist Ronnie Harper war davon überzeugt: „Alex ist einmalig. Wenn er je einen Psychiater aufsuchen würde, bräuchte der Psychiater nach der Sitzung selbst einen Psychiater.“

Higgins‘ erster Manager John McLoughlin drückte es etwas volkstümlicher aus: „Alex hatte nur drei Laster: Trinken, zocken und Frauen.“

Feste Nahrung schien zweitrangig. Seinen zweiten WM-Titel errang der Nordire 1982 angeblich dank einer 17-tägigen Fastenkur. Er habe sich wegen der für seinen Geschmack ungenießbaren Gaumenfreuden aus der Hotelküche in Sheffield ausschließlich von Vitaminpillen ernährt. Sein Kommentar nach dem Sieg: „Wenn ich so spielen und trainieren kann, ohne zu essen, muss ich der Beste sein.“

Nie geklärt wurde, ob Alex einen eigens für ihn erfundenen Wochenend-Vierkampf im Ferienhaus von Film-Rabauke Oliver Reed tatsächlich gewonnen hat, da keiner der Teilnehmer in der Lage war, der Presse ein eindeutiges Ergebnis zu melden. Irgendwo zwischen den verabredeten vier Disziplinen Snooker, Armdrücken, Tischtennis und Non-stop-Disco-Dancing müssen die Herren den Faden verloren haben.

 

„Ich kenne zwei alte Belgier, die beide darauf bestehen, sie hätten es drauf, so viel Effet in einen Ball zu bringen, dass vom Tuch Rauch aufsteigt.“
Richard Helmstetter, Queue-Schreiner

 

Die Frage nach Higgins‘ logischem Nachfolger war schnell beantwortet: Der 14 Jahre jüngere Jimmy White eroberte dank seines orkanartig schnellen Spiels die Herzen der Fans. Zudem galt ihm stets das Mitgefühl der gesamten Snooker-Gemeinde, weil er alle seine sechs WM-Finals verlor, davon vier in Serie gegen Stephen Hendry. Snooker-Pate Barry Hearn sorgte sich dennoch immer wieder um seine Klienten: „Ich möchte, dass meine Spieler fit sind. Aber es ist schwer, gegen jemanden wie Jimmy White anzutreten, der sich mit Wodka und Nachtclubs in Form hält.“


Barry Hearn, als Mehrheitseigner von World Snooker Ltd. der Bernie Ecclestone des Snooker, ist aber auch selbst seit jeher Ziel bissiger Kommentare. Ex-Profi Cliff Wilson bemerkte schon tief in den Neunzigern: „Ich hoffe, Barry bleibt dem Snooker noch eine Zeitlang erhalten, denn der einzige Job, den er ansonsten akzeptieren würde, wäre der von Gott.“
Hearns Geschäftsmodell, das auch Box- und Dartveranstaltungen umfasst, ist so simpel wie eh und je: „Ich hab schon immer meinen Schnitt gemacht. Als Jugendlicher habe ich andere Kids Auto waschen, Fenster putzen und Rasen mähen lassen und dafür 25 Prozent Provision kassiert.“ Den Londoner Fußballclub Leyton Orient erwarb er 1995 für fünf Pfund. 
  

Hungerjahre

Kanadas schwergewichtige Snooker-Legende Bill Werbeniuk war zwar kein Champion, aber viele Jahre geschätztes Mitglied der Szene. Er durfte auf Anraten seines Leibarztes drei Liter Bier vor jedem Match konsumieren, um das Zittern in seiner rechten Hand zu beruhigen (hinzu kam je ein weiterer halber Liter pro Frame). Die entstehenden Kosten brachte er während seiner Zeit in England als Betriebsausgaben in der Steuererklärung unter. Alleine 1981 betrug die abzugsfähige Summe rund 2.000 Pfund Sterling. Bei geschätzten acht bis zehn Litern Lager-Bräu pro Tag eine nicht unerhebliche finanzielle Erleichterung.

Wie man es hingegen mit ungestilltem Durst an die Weltspitze schaffen kann, bewies die Trainingsmethodik des sechsfachen Weltmeisters Steve Davis: „Als ich jünger war, hab ich mir ein Tablett mit Drinks und Brötchen gerichtet. Bei einem Break von 50 durfte ich einen Schluck nehmen, bei 100 ein Stückchen abbeißen. Eine gute Möglichkeit zu hungern. Wahrscheinlich bin ich deshalb so dünn.“ Oder so schlagfertig. Wenn es um Sprüche für die Ewigkeit gilt, hat Davis mindestens genauso viel zu bieten wie Sepp Herberger („Der Ball ist rund“).

Fragen nach dem zu erwartenden Spielergebnis beantwortet er schon mal mit „Am Anfang steht’s immer null zu null“. Und Herrenmagazine wie Frauenzeitschriften erfreut er mit Bonmots der Sorte „Gespräche während des Sex sind großartig. Vorausgesetzt, sie drehen sich um Snooker“.

Aber der Jazz-Liebhaber und ehemalige Vorsitzende des britischen Schachverbands muss im Matchplay seiner Glanzzeit auch eine dunkle Seite gepflegt haben, geht man nach seinem Entdecker und Mentor Robbo Brazier: „Steve ist durch und durch niederträchtig. Wäre er in der Mafia, würden sie ihn beseitigen, weil er zu grob ist.“

Hart im Nehmen war er ganz gewiss. Während des WM-Turniers 1983, das er im Finale gegen den „Grinder“ Cliff Thorburn mit 18:6 Frames gewann, erhielt er eine telefonische Morddrohung. Sein trockener Kommentar im Rahmen der Sieger-Pressekonferenz:  „Für jemanden, der gerade einen solchen Anruf bekommen hat, muss ich recht gut gespielt haben.“

 

30 Grad minus

Noch ein bisschen härter war allenfalls sein Finalgegner aus der Eiswüste Kanadas. Beschwerden, sein Spiel sei langweilig und nicht flüssig genug, konterte Cliff mit der Bemerkung: „Offensichtlich haben diese Jungs nie in Thunder Bay in North Ontario Snooker gespielt, wenn der Spieleinsatz aus den letzten fünf Dollar besteht, die du in der Tasche hast. Gewinnst du dann nicht, hast du nichts zu essen, und draußen warten 30 Grad minus auf dich. Glaubt mir: Wenn es hart auf hart kommt, lernst du Sicherheitsstöße zu spielen, bevor du auch nur dran denkst, eine Rote zu versenken.“

Auch Ray „Dracula“ Reardon, sechsfacher Weltmeister in den Siebzigern, hat für selbst ernannte Kenner des Spiels bestenfalls beißende Ironie parat: „Jeder nicht selbst spielende Experte weiß: Wenn der Ball nicht drin ist, kann der Mann nicht spielen.“

Dabei meistern die Herren mit Queue mitunter spielend schwerste Handicaps. Willie Thorne, der als einer der begabtesten Spieler der 1970er und 1980er galt, aber keine größeren Titel gewonnen hat, gilt als Wegbereiter des modernen Spiels mit hohen Breaks. Als dritter Spieler überhaupt schaffte er mehr als 100 Centuries. Sein kuriosestes Maximum Break gelang ihm 1982 – mit zwei Gipsbeinen nach einem Go-Kart-Unfall. Bei einem Match in seinem Club in Leicester hüpfte er auf Krücken um den Tisch, bis die 147 Punkte beisammen waren.

 

Handicap: Handcreme

Aber was sind all die Handicaps der Helden gegen die Widerstände, die Frauen im Snooker erlebt haben? Nicht etwa 1885, sondern in der Tat 1985 erläuterte der Funktionär einer englischen Amateurliga, warum man Damen am Spieltisch grundsätzlich ausschließe: „Die Handcreme der Frauen macht die Kugeln unspielbar, und mit ihren Diamantringen schlitzen sie die Tücher auf.“

Brian Halter, Gründer der Bristol Ladies Billard and Snooker Association, erlebte ebenfalls konservativen Widerstand, nachdem in den späten 1980ern mehr als hundert Frauen einem Aufruf zum Probetraining gefolgt waren: „Ich habe ständig wütende Ehemänner und Boyfriends am Telefon. Viele beschweren sich, sie wären hungrig ohne Abendessen zurückgelassen worden, andere wiederum fühlen sich furchtbar einsam.“

 

© Matthias Breusch 2020 (Text)

Fotos: Uwe Schnädelbach, Martin Fleig


Quellen der Zitate: 


Eugene Weber & Clive Everton
The Book of Snooker and Billiards Quotations
(Stanley Paul & Co Ltd, 1993)


Chris Rhys
The Book of Snooker Disasters & Bizarre Records
(Stanley Paul & Co Ltd, 1986)

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