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die Wortwerkstatt

Zeitmaschine Rock & Roll

Eine Scroll-Tapete aus Buchstaben für Menschen, die gerne in die kuriosen Nischen der Musikgeschichte eintauchen: An dieser Stelle finden sich Geschichten über Guns N’Roses, Woodstock, Meat Loaf, Kiss-Schlagzeuger Eric Carr, die einzig wahren und echten Deep Purple, Sharon und Ozzy Osbourne als Duo der Gerechten, das Songwriting-Duo Elton John und Bernie Taupin, den Geschäftssinn von Wunderkind Stevie Wonder sowie die beiden deutschen Stadion-Acts Scorpions und Accept.


W. Axl Rose: Satans jüngste Tochter wohnt gleich nebenan

Am 30. Oktober 1990 wird W. Axl Rose von der wildesten aller Musen geküsst: Ein Streit mit seiner Nachbarin um Wein und Hühnchen endet in Handschellen. Und gleich danach schreibt er den Text zu 'Right Next Door To Hell'.

Guns ‘N Roses-Sänger William Bailey alias W. Axl Rose hat sich in vielen seiner Songtexte frustrierende Erfahrungen mit anstrengenden Mitmenschen von der Seele geschrieben. Ex-Liebhaberinnen mit Koksnase ('You Could Be Mine') oder bösem Karma ('Back Off, Bitch') setzt er auf dem Doppelalbum Use Your Illusion liebliche Denkmäler.

In Erinnerung bleibt aber vor allem jener Moment, als er zu 'Right Next Door To Hell' inspiriert wird. Der Song ist gleich im ersten Teil von Use Your Illusion prominent vertreten: als Eröffnungsnummer.

Zu Hülfe!

Axls Nachbarin Gabriella Kantor greift am Abend des 30. Oktober 1990 zum Telefon und ruft im Polizeirevier von Hollywood um Hilfe. Der wüste Sänger im Apartment nebenan habe sie mit einer Weinflasche sowie einem gut durchgebratenen Broiler attackiert und anschließend ihren Schlüsselbund aus dem zwölften Stock geworfen.

Niedliche 5.000 Dollar

Die Cops sind gleich zur Stelle, legen Axl in Eisen und verfrachten ihn für vier Stunden in eine Zelle. Das zuständige Gericht hat offenbar noch nicht mitbekommen, dass Mister Bailey ein gut betuchter Rockstar ist, denn man lässt ihn für niedliche 5.000 Dollar Kaution wieder laufen.

Schon Wochen vor dem Gerichtsverfahren tragen beide Parteien die Sache in der Presse aus. Axl wird in „People“ mit den Worten zitiert: „Sie hat ‘ne Schraube locker. Irgendwann hat sie damit begonnen, auf die Wand einzuhämmern und ihren Fernseher auf zehn zu drehen, um mich zu nerven. Daraufhin ist mir der Refrain zu 'Next Door To Hell“'eingefallen. Er passt bestens.“ Ihr Verhältnis beschreibt er nüchtern: “Sie ist ein besessener Fan und möchte großen Raum in meinem Leben einnehmen. Zurückweisungen erträgt sie nicht.“

Eine richtig gute Flasche

Die persönliche Begegnung auf dem Flur des Apartmenthauses hat ebenfalls ihre Momente. Frau Kantor erzählt – ebenfalls bei „People“ –, Axl habe ihr „eine richtig gute Flasche Chardonnay“ über die Rübe gehauen. Sie beklagt eine Gehirnerschütterung und post-traumatische Kopfschmerzen.

Axl wiederum erläutert, das könne gar nicht passiert sein, denn „wenn ich sie wirklich mit einer Buddel getroffen hätte, wäre sie danach nicht mehr aufgestanden“. Im Gegenteil: Er habe ihr zu ihrem eigenen Schutz die Flasche aus der Wurfhand genommen, als sie im Treppenhaus schreiend auf ihn zugelaufen kam, und sich in seine Wohnung zurückgezogen. Daraufhin habe sie ihm ihren Schlüsselbund hinterhergefeuert. Er habe die Tür geschlossen und die Schlüssel vom Balkon geworfen.

Da Frau Kantor außer einem Hühnerfettfleck keinerlei Verletzungen nachweisen kann, legt stellt das Gericht am 28. November 1990 das Verfahren aus Mangel an Beweisen ein. Beide Parteien einigen sich zudem außergerichtlich darauf, sich „zukünftig nicht mehr zu nähern“.

Ohrenbetäubende Lautstärken

Rund fünf Jahre später hat Mr. Rose erneut Probleme mit einer Dame gleich nebenan. Er versucht längere Zeit vergeblich, eine schrille Stalkerin namens Karen McNeal aus dem Dunstkreis seines Domizils in Malibu dauerhaft entfernen zu lassen, aber die teuflische Lady steht selbst nach diversen Knastaufenthalten wegen Verletzung der Privatsphäre immer wieder kreischend vor seiner Tür.

Der Terror für Axl beginnt damit, dass Frau McNeal in seiner Nachbarschaft einzieht und wochenlang rund um die Uhr bei offenem Fenster die Songs von Appetite For Destruction in ohrenbetäubender Lautstärke laufen lässt, um den prominenten Angebeteten auf sich aufmerksam zu machen.

Morgens, mittags und abends 'Sweet Child O’ Mine' – kein Wunder, dass sich der ehemalige Nachtwächter lange nicht mehr von dieser Endlosschleife erholte. Ein Dancefloor-Remix von 'Right Next Door To Hell' – Ende der 1990er experimentiert Axl auf Demos mit Elektro-Beats – ist offenbar keine Alternative. Mehr als ein Dutzend Jahre dreht er sich danach mit dem Songwriting für sein Spätwerk Chinese Democrazy im Kreis.


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Ein einmaliges Duo: Sharon und Ozzy Osbourne im Selbstportrait von 1986

 


Sharon und Ozzy Osbourne: „Eier, wir brauchen Eier!“

Ozzy Osbournes Eheweib Sharon gilt als härteste Managerin der Musikwelt. Wer sich mit ihr anlegt, schreit nach Peitschenhieben. Iron Maidens Sänger Bruce Dickinson kritisiert die Geldmaschine Ozzfest auf offener Bühne? Die Rache von Mrs. O. lässt an Stil und Klasse nichts zu wünschen übrig.

Der Abend des 20. August 2005 im kalifornischen San Bernardino geht als Hexenkessel in die Geschichte der Ozzfest-Konzerte ein. Die Events werden seit 1996 von Frau Osbourne als Festival-Zirkus mit Ehemann Ozzy als Zugpferd in den USA veranstaltet.

Schon während des ganzen Tages haben Sharon Osbourne und ihre Tochter Kelly backstage allerlei Musiker und Gäste dazu animiert, an einer „lustigen Bestrafung“ von Iron Maiden teilzunehmen. Darüber hinaus hat Sharon rund 200 Leutchen organisiert, darunter eine Gruppe Surfer aus Malibu, die speziell für diesen Einsatz rekrutiert und mit VIP-Pässen ausgestattet worden sind.

Eiswürfel mit Erdnussbutter

Als Iron Maiden ihren Auftritt beginnen, sind Cheerleader-Kelly und ihre Kohorte mit allerlei Wurfgeschossen direkt vor der Bühne einsatzbereit. Während der einstündigen Show fliegen den Musikern rohe Eier, Kronkorken, Eiswürfel, klebrige Erdnussbutterhäppchen und volle Bierbecher um die Ohren. Ein Spezialist hat die Aufgabe übernommen, Bruce Dickinson immer dann anzuspucken, wenn der Frontmann der Briten vorne an der Bühnenkante auftaucht – was dessen Aktionsradius spürbar einengt. Die Ozzfest-Security sieht keinerlei Anlass zum Eingreifen.

Rührei in der Trommel

Drummer Nicko McBrain bittet schon nach dem ersten Song um eine kurze Pause, weil er erst mal das Rührei von seinem Schlagzeug abwischen muss. Bei mindestens drei Nummern fällt außerdem ganz zufällig die Beschallungsanlage aus, so dass die Band nicht mehr zu hören ist, und ein Animateur bölkt am Mischpult „Ozzy, Ozzy“ in ein Mikrofon. Er wird von „Maiden, Maiden“-Sprechchören übertönt.

Die Band lässt sich von den Umständen nicht ernsthaft aus dem Konzept bringen und powert ihr Programm mit der gewohnten Leidenschaft durch. Lediglich Maskottchen Eddie kommt erst mit Verspätung zum Dienst: Der beliebte Untote wird von Osbourne-Sachbearbeitern beim Betreten der Bühne aufgehalten. Offenbar kann er keinen gültigen VIP-Pass vorweisen.

Manchmal muss man einfach draufhauen

Zum Schluss entert die Chefin höchstpersönlich die Bretter. Sie erzählt den 45.000 Besuchern, es täte ihr echt total leid wegen der furchtbar netten Kerle von Iron Maiden, aber Bruce Dickinson sei nun mal ein „Prick“. Das kann man an sonnigen Tagen freundlich mit „böser Schniepel“ übersetzen. Sie wird ausgebuht. Anschließend leert sich das Gelände. Black Sabbath spielen ihren Gig nur noch vor etwa der Hälfte der Ticketbesitzer.

Schutzzaun für die Edelfans

Zuvor hat auch Bruce leicht erregt klare Worte gefunden. Er empfiehlt tatkräftigen Maiden-Maniacs, den Werfern am besten die Arme zu brechen. Gewaltexzesse bleiben allerdings aus, weil sich die Täter und Täterinnen im abgezäunten Areal für Premium-Promis aufhalten, zu dem normale Menschen keinen Zugang haben. Der eigentliche Fan-Bereich beginnt erst zehn Meter weiter hinten.

Ozzy Osbournes Lesebrille

Genau diese Aufteilung ist es, die ursprünglich zum Zwist von Dickinson und dem Ozzy-Lager geführt hat. Bruce stört sich während der gesamten Tour an der „Firmenveranstaltung“, die aus seiner Sicht wenig mit einem fanfreundlichen Konzert gemeinsam hat, kritisiert das „Abzocken der kleineren Bands, die dafür zahlen, dass sie mitspielen dürfen“ und nutzt so manche Gelegenheit, spitze Bemerkungen über mediengeile Reality-TV-Stars in seine „Moderation“ einzubauen. Die Osbournes sind schwer begeistert. Hinzu kommt ein schäbiger Seitenhieb auf Ozzys Bühnen-„Lesebrille“ – einen Teleprompter – in einem Interview mit dem Branchen-Fachblatt Kerrang!.

Demut ist der neue Protz

Im Nachhinein lassen Iron Maiden die Auseinandersetzung bis auf ein Statement ihres Managers Rod Smallwood weitgehend unkommentiert („So etwas Niederträchtiges und Unprofessionelles habe ich in 30 Jahren im Musikgeschäft nicht erlebt“). Sharon und Ozzy legen hingegen acht Monate später als Talk-Gäste von Randale-Radiomann Howard Stern noch mal nach. Als Erster holt Ozzy aus: „Ich hab’s gleich gesagt: Buch‘ sie nicht für die Tour, Sharon. Mit diesen Leuten gibt’s nur Ärger. Riesenärger. Aber keiner wollte auf mich hören.“

Grün vor Neid

Wie habe das alles denn passieren können, will Stern wissen. Sharon weiß es ganz genau: Bruce sei eifersüchtig und grün vor Neid auf ihren weltberühmten Ozzy. Für die Sabotage des Maiden-Auftritts („Wir haben sie gedemütigt!“) wird sie von Howard Stern gelobt: „Dafür muss ich euch applaudieren.“ Sharon sagt danke: „Fünf Wochen lang haben wir uns jeden Abend angehört, was der kleine Mann gegen Ozzy abgelassen hat. Aber ich wusste: Wir kriegen dich. Du wirst dafür bezahlen.“

Nun, genau genommen haben die Fans an diesem Abend bezahlt. Ab 150 Dollar pro Ticket aufwärts. Dafür darf man schon mal eine halbwegs störungsfreie Veranstaltung erwarten. Vorausgesetzt, die Veranstalterin heißt nicht Sharon Osbourne …


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Woodstock im Kino: elf Jahre bis zur schwarzen Null
Woodstock ist die Mutter aller Open Airs. Verantwortlich für den Mythos ist auch der bahnbrechende Film über das Festival. Am 1. April 1970 erobert er die Kino-Welt.

Hätte der Rest der Welt nie eine Dokumentation von Woodstock zu sehen bekommen – mit dem furiosen Finale von Jimi Hendrix am Montagmorgen –, wer weiß, ob die Legende auch nur annähernd so riesig geworden wäre.

Selbst wenige Tage vor dem 15. August 1969, als bereits annähernd 100.000 Tickets verkauft sind, sieht es nicht danach aus, als sollte es überhaupt einen Film geben. Sämtliche Filmemacher in New York City sind entweder mit anderen Projekten beschäftigt oder können sich mit den Veranstaltern des Festivals nicht einigen; denn diese erwarten Eigenleistungen der Produzenten und möchten keine eigenen Vorschüsse in die Dokumentation stecken.

Im kreativen Vakuum

„Es war praktisch ein Vakuum. Zwei Wochen vor Woodstock arbeitete absolut niemand an einem Film“, erinnert sich Dale Bell, einer der Co-Produzenten von Woodstock. Michael Wadleigh sieht hingegen seine Chance und handelt einen Vertrag aus, der ihm in kreativer Hinsicht alle Freiheiten lässt.

Dale hat Wadleigh wenige Jahre zuvor als Pionier der Steady Cam kennengelernt, der am Körper getragenen Kamera, die beide Hände frei lässt. „Er war der geborene Kameramann.“ Wadleigh, der sich seine Brötchen unter anderem mit Beiträgen fürs amerikanische Schulfernsehen verdient, wird als Regisseur von Woodstock in die Geschichte eingehen – mit dem Einsatz etlicher 16-Millimeter-Kameras, aber nicht zuletzt auch dank eines technischen Meilensteins, der die Film- und Fernsehwelt revolutioniert.

Aretha zündet die Rakete

Ende Juni 1969 avanciert Aretha Franklin unfreiwillig „zur Patin des Films“, wie Dale erzählt. Zwei Songs werden bei einem Auftritt der Auftritt der Diva in Detroit aus mehreren Perspektiven mitgeschnitten. Und in einem New Yorker Studio steht zufällig eine brandneue Maschine, mit der diese Aufnahmen zusammen in ein Bild montiert werden können. Jeder, der den ersten Split Screen der Film- und Fernsehtechnik zu sehen bekommt, ist hingerissen. „Ab da hatten wir die konkrete Idee für einen Konzertfilm.“

Eine Woche vor Beginn des Festivals quetscht sich die Vorhut der Crew samt Equipment in zwei Autos und reist zum Milchhof von Max Yasgur, auf dessen Viehweiden das Ganze stattfinden soll. „Wir ließen uns ein Kamera-Areal bauen, um auf ganzer Bühnenbreite filmen zu können, und baten um eine begehbare Zone unterhalb der Bühne als Arbeitsbereich für 15 bis 20 Leute.“

Außerdem werden bewegliche Doku-Teams zusammengestellt, die alles festhalten sollen, was sich abseits der Bühne ereignet. Insgesamt hat Wadleigh nun 60 Spezialisten aus Bild, Ton und Technik vor Ort versammelt, darunter 15 Kameraleute.

Keine Kohle, keine Klamotten

„Wir hatten weder Geld noch Klamotten zum Wechseln, fast nichts zu essen und konnten kaum an Schlaf denken“, erinnert sich Dale an die Strapazen. „Aber als wir am Montag einpackten, wussten wir, dass wir etwas ganz Großes eingefangen haben.“

Dabei reichen die rund tausend mitgebrachten Filmrollen nicht einmal aus, wie Wadleigh bemerkt: „Wir konnten gar nicht alles aufnehmen, weil sich die Bands nicht an die Ablaufpläne hielten und gar nicht mehr zu spielen aufhören wollten.“

200 Kilometer Film

Aus annähernd 200 Kilometern abgedrehtem Filmmaterial schneiden Wadleigh und seine Assistenten, darunter der 27-jährige Martin Scorsese, den 184 Minuten langen Monumentalfilm über viel Musik, noch mehr Schlamm, staunende Landbewohner und eine halbe Million friedlicher Kids. Woodstock wird weltweit zum Renner an den Kinokassen.

Ganz nebenbei saniert der Film auch noch die Veranstalter. Eine Million Menschen sollen sich auf den Weg gemacht haben, um Santana, Joan Baez, Janis Joplin, Joe Cocker oder The Who zu sehen. Hunderttausende kommen auf dem Gelände an, noch bevor auch nur die Umzäunung fertig ist. Die Kosten wachsen ins Unermessliche, vor allem da viele Musiker angesichts der Menschenmassen einen Nachschlag auf ihre Gagen fordern.

Um dem Bankrott zu entgehen, beteiligen die Organisatoren Warner Brothers zu einem weit höheren Prozentsatz an ihrem Anteil als ursprünglich geplant. 600.000 Dollar werden als Produktionskosten ausgewiesen, 50 Millionen Dollar alleine an den US-Kinokassen erlöst. Elf Jahre dauert es, bis auf dem Investment-Konto der Woodstock-Macher eine schwarze Null steht.


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Eric Carr: ein Mann mit Werkzeug

Bis zu seinem frühen Krebstod steht Eric Carr mit Kiss elf Jahre lang im Rampenlicht. Sein Aufstieg ist eine typisch amerikanische Geschichte: vom Estrichleger zum Millionär.

Eric kommt 1950 unter seinem Geburtsnamen Paul Caravello in Brooklyn zu Welt. Er gehört zu der Generation, die in den 1960er und 1970er Jahren die farbenprächtige Explosion der modernen Musik miterlebt.

1964 ist er Beatles-Fan und verehrt deren Drummer Ringo Starr. „Ein Onkel hat mir ein Schlagzeug geschenkt, als ich sieben oder acht war. Ich hab einfach drauf rumgehauen und es kaputtgemacht“, erzählt er 1989 im Interview eines Kiss-Fanclubs. „Ich konnte nichts damit anfangen. Erst als die Beatles groß rausgekommen sind, hat es mich so richtig gepackt.“

Öfen und Böden

Dank seiner künstlerischen Talente besucht Paul Caravello die Highschool of Art and Design. Zunächst will er Comiczeichner werden, später legt er seinen Schwerpunkt auf Fotografie. Aber ein weitergehendes Studium ist nicht drin.

Wie vielen anderen Musikern seiner Generation wird ihm wenig geschenkt. Nach dem Abschluss verdient er sich den Lebensunterhalt jahrelang bei seinem Vater, einem gelernten Ofensetzer und Installateur, der alle möglichen handwerklichen Arbeiten anbietet. Paul entpuppt sich nebenbei als begabter Estrichleger.

Rockstar über Nacht

Zur Gattung des neureichen Emporkömmlings gehört er nie. Selbst als sich auf seinem Kiss-Konto dicke Guthaben stapeln, hat er stets seine Werkzeugkiste parat und lässt es sich nicht nehmen, defekte Gasheizungen eigenhändig zu reparieren. Bis er 30 ist und über Nacht zum Rockstar avanciert, muss er sich nicht nur beim Trommeln jederzeit auf sein Handwerk verlassen können, um überleben zu können.

Flucht aus der Todesfalle

Dass er überhaupt noch eine Chance bekommt, gleicht einem kleinen Wunder. Ende Juni 1974 hat er einen Auftritt mit seiner Band The Creation, ehemals Salt & Pepper, einem stilistisch vielfältigen Projekt aus schwarzen und weißen Musikern. Während eines Gigs in Port Chester, nördlich von New York City, legt ein Brandstifter im Nebengebäude Feuer. Das Souterrain des Clubs, wo die Band vor rund 200 Leuten spielt, wird zur Todesfalle. Zusammen mit einer Sängerin gelingt Paul in letzter Sekunde die Flucht. Unter den 24 bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Opfern sind auch zwei seiner Freunde.

Das Trauma dieses Unglücks beschäftigt ihn noch lange. Finanziell geht es ihm schlecht. Viele Gagen sind reine Hungerlöhne. Er hält sich als Lieferwagenfahrer und Möbelpacker über Wasser.

Träumen in Neon-Orange

Dass aus Paul Caravello Eric Carr wird, kommt eher zufällig zustande, denn Kiss-Fan ist er keineswegs. Er liebt Soul Music und Funk und bewundert John Bonham, den Drummer von Led Zeppelin. Als Kiss 1980 per Zeitungsannonce nach einem Nachfolger für Peter Criss suchen, verschafft er sich mit einem simplen Trick Aufmerksamkeit im Büro von Kiss-Manager Bill Aucoin: Er steckt seine Bewerbung in einen grell orange leuchtenden Umschlag – und wird sofort zum Vorspielen eingeladen.

Beim Test fällt allerdings eher die Band durch: Die Herren Helden haben ihre eigenen Songs nicht richtig drauf und müssen von ihrem Bewerber mehrfach daran erinnert werden, wie die Parts richtig zu spielen sind. „Wir haben praktisch gleich zu arbeiten begonnen. Das hat sie offenbar beeindruckt.“

New York, Tokio, Helsinki: Die Frisur sitzt

Abgesehen von seinem modernen, kraftvollen Powerdrumming und seinem positiven, lebensfrohen Auftreten ist es letztlich allerdings seine prächtige Mähne, die den Ausschlag gibt, dass der Außenseiter den Job bei der selbsternannten „größten Band der Welt“ bekommt. Ein Statement von Paul Stanley spricht für sich: „Nun, der Typ kann spielen. Aber vor allem die Frisur stimmt. Alles, was er braucht, ist ein anderer Name …“

… denn einen Paul hat die Band ja bereits. Außerdem stellt ihm das Management einen Porsche als Dienstwagen vor die Tür. Es sei auf keinen Fall akzeptabel, dass der neue Mann einen ramponierten Gebrauchtwagen vor dem luxuriösen Proberaum von Kiss parkt. Eric hat allerdings nichts als Ärger mit der noblen Kiste. Auch in Stuttgart-Zuffenhausen werden hier und da offenbar sogenannte „Montagsautos“ fabriziert, die mehr Zeit in der Werkstatt als auf der Straße verbringen …

Das Monster erwacht

Zu diesem Zeitpunkt ihrer Geschichte gelten Kiss längst nicht mehr als cool. Ihre großen Zeiten scheinen vorbei zu sein. Aber als Eric seine Doppel-Bassdrum-Burg am 25. Juli 1980 auf der Bühne des New Yorker Palladium aufbaut, wo die Live-Premiere der neuen Besetzung stattfindet, weht ein neuer Wind. Sein ausgefeilter Kraftfutterstil, der auch optisch einiges hermacht, lässt Vorgänger Peter Criss geradezu altbacken wirken und beschert den Kiss-Klassikern eine spürbare Belebung.

Erics Biograf Greg Prato zitiert einen Konzertbesucher: „Peter Criss hatte seine Momente. Aber Eric war ein Monster. Er trieb die Band an. Er war eine Maschine, ergänzte die Songs aber auch mit allerlei kleinen Extras. Wo er hinlangte, entstand etwas Besonderes.“

Ein Talent, vier Instrumente

Erics Händchen für rhythmische und musikalische Elemente kommt nicht von ungefähr. Noch vor den Drums hat er Gitarre gelernt; er spielt passabel Klavier und besitzt eine volle Singstimme, ähnlich wie Roger Taylor, der Schlagzeuger von Queen. Auch als Songwriter hinterlässt er Spuren. Im Laufe der Jahre kommen einige Kiss-Nummern zusammen, die Eric als Verfasser aufführen. Sein ganzer Stolz ist 'Little Caesar' auf Hot in the Shade, das er praktisch im Alleingang einspielt: als Leadsänger,  Bassist, Drummer und Rhythmusgitarrist. 1982 komponiert er außerdem zusammen mit Bryan Adams den Song 'Don’t Leave Me Lonely' für dessen Hitalbum Cuts Like A Knife.

Im Schatten von Freddie Mercury

Trotz seiner Fähigkeiten und Erfolge stempelt ihn die Ironie der Geschichte am Ende zumindest in der medialen Aufmerksamkeit am Ende zum Nebendarsteller: Paul Caravello alias Eric Carr stirbt am 24. November 1991 – am selben Tag wie Queen-Legende Freddie Mercury ...


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Stevie Wonder: Wenn du heiß bist, bist du heiß

Es gibt gute Musiker, es gibt grandiose Musiker – und dann gibt es jene, die die Spielregeln neu definieren. Das Wunderkind Stevie Wonder hat immer wieder ganz neue Töne angeschlagen – sogar im Geschäft mit der Musik.

Elf Jahre ist der schmächtige Stevland Morris alt, als er an der Hand seiner Mutter Lula Hardaway zum ersten Mal die Räume des legendären Detroiter Motown-Studios betritt. Sein Künstlername Little Stevie Wonder lässt nicht lange auf sich warten – die versammelten Musiker und Tontechniker sind verblüfft, was der Junge mit der riesigen Sonnenbrille alles drauf hat. An praktisch jedem Instrument, das er in die Finger bekommt, ist er ein Naturtalent – ob hinter dem Schlagzeug, am Piano, an der Mundharmonika oder als Sänger. Und er entpuppt sich als selbstbewusster, experimentierfreudiger Songwriter. Stevie ist seit seiner Geburt blind – aber nie behindert.

2,50 Dollar pro Woche

Motown-Gründer Berry Gordy, ein ehemaliger Boxer, legt  sofort einen Plattenvertrag auf den Tisch. Alle Tantiemen wandern bis zu Stevies Volljährigkeit auf ein Sperrkonto. Ausgezahlt werden lediglich 2,50 Dollar Aufwandsentschädigung pro Woche. Als 13-Jähriger hat er mit einer virtuosen Blues-Harp-Aufnahme seinen ersten Nummer-eins-Single-Hit: "Fingertips".

Handgeld mit sechs Nullen

Stevie lernt schnell, dass er - ebenso wie seine Labelkollegen Marvin Gaye und Diana Ross - Teil eines großen Geschäfts ist. Nach seinen zahlreichen frühen Erfolgen und Konzertreisen in den 1960ern weiß er ganz genau, was er wert ist und wie er sich verwirklichen möchte.

An seinem 21. Geburtstag ist er längst ein alter Hase. Er lässt die Verlängerung seines auslaufenden Vertrags platzen und legt einen neuen vor, der ihm die komplette künstlerische Kontrolle garantiert. Stevie fordert für seine Unterschrift ein Millionen-Handgeld und zukünftig 50 Prozent aller Einnahmen. Berry Gordy, der es gewohnt ist, seine Acts wie Marionetten zu dirigieren, geht zähneknirschend auf den harten, aber gerechten Deal ein – und wird es nicht bereuen.

Auf Tour mit den Rolling Stones
Der entfesselte Künstler Stevie Wonder macht im Laufe der nächsten Jahre eine atemberaubende Karriere. Sein Welthit "Superstition" ist dabei nur ein erster Schritt. Auf demselben Album – "Talking Book" von 1972 – findet sich mit der Ballade "You Are The Sunshine Of My Life" gleich noch eine zweite Nummer-eins-Single. Zudem geht er mit den Rolling Stones auf Tour, weil er ein breiteres Publikum erreichen möchte.

1973 ist ein zweifach bedeutsames Jahr. "Innervisions" mit Highlights wie "Living In The City" wird in den Staaten als „Album des Jahres“ ausgezeichnet. Gravierender ist jedoch ein Auffahrunfall am 6. August, bei dem er so schwer verletzt wird, dass er einen Teil seines Geruchsinns und vorübergehend auch seinen Geschmackssinn verliert.

Total digital
Im September 1976 erklimmt er mit "Songs In The Key Of Life" endgültig den Gipfel: Das Doppelalbum mit Ohrwürmern wie "Sir Duke" und "Isn’t She Lovely", das er nach der Geburt seiner Tochter Aisha schreibt, debütiert auf Platz eins der Billboard-Charts und bleibt dort für weitere 14 Wochen stehen.

Seit jeher faszinieren ihn Klangexperimente und exotische Instrumente, wie sie im Spätsechziger-Repertoire der Beatles auftauchen. Ab den frühen Siebzigern setzt er selbst konsequent Synthesizer ein. Er ist auch unter den ersten Musikern, die mit Sampling-Technik experimentieren. 1979 geht er mit "Stevie Wonder’s Journey Through The Secret Life Of Plants" einen weiteren Schritt als technologischer Pionier: Es gehört zu den ersten vollständig mit digitaler Technik aufgenommenen Alben überhaupt.

Botschafter des Friedens

Der Rest füllt Geschichtsbücher: unzählige Kollaborationen mit etlichen Größen der Musikwelt, Beiträge zu Filmsoundtracks und sein langjähriges politisches Engagement vor allem für sein Eintreten gegen Rassismus, für das ihn die UNO 2009 zum „Botschafter des Friedens“ ernennt.

1980 schreibt er den Song "Happy Birthday" für eine Kampagne, die zum Ziel hat, einen nationalen Feiertag zum Gedenken an den ermordeten Bürgerrechtler Martin Luther King einzurichten – mit Erfolg. 1982 verfasst er zusammen mit Paul McCartney den Chartbreaker "Ebony And Ivory". Seinen Oscar für "I Just Called To Say I Love You" widmet er dem seinerzeit noch inhaftierten Nelson Mandela, was das faschistische Regime in Pretoria dazu veranlasst, das Abspielen aller seine Songs im südafrikanischen Radio zu verbieten.

Etiketten sind Blödsinn
In einem Interview mit dem britischen „Guardian“ sagt der neunfache Vater 2012: „Es ist schon lustig. Ich habe es nie für einen Nachteil gehalten, blind zu sein, und ich habe es nie für einen Nachteil gehalten, schwarz zu sein. Ich bin, was ich bin. Gott hat mir gestattet, das zu nutzen, was ich hatte, und etwas daraus zu machen.“

Die Schubladen, in die er gesteckt wird, kümmern ihn wenig: „Ich habe nie gesagt, ich sei ein Soul- oder R&B-Künstler. Das sind lediglich Etiketten. Wenn du Soul machst, bist du schwarz, wenn du Pop machst, bist du weiß? Völliger Blödsinn. Wenn du gut bist, ist es gut. Es läuft wie in dem alten Song von Jerry Reed: When you're hot, you're hot, when you're not, you're not.”


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Meat Loaf: alternative Energien mit 137 Batterien

Bat Out Of Hell-Superstar Meat Loaf ergattert seine erste Hauptrolle als Schauspieler: im Slapstick-Film Roadie wird Michael Lee Aday 1980 als Weltmeister der Bühnentechnik gefeiert.

Das Universum hinter den schönen bunten Kulissen des Schaugeschäfts ist die Welt der Roadcrews: hart arbeitender und schlecht bezahlter Bühnenbauer oder Instrumentenmechaniker mit Schlafmangel, die für wenig Geld monatelang mit dem Band-Zirkus von einem Nest zum nächsten gekarrt werden. An jedem neuen Ort warten kalte Pizza, lauwarme Duschen und haufenweise brennende Probleme.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Filmwelt dieses Thema für sich entdeckt. Zumal sich das Motto „Bands make it rock, but the roadies let it roll“ wunderbar als Vehikel für allerlei musikalische Einlagen von Musikanten eignet, die in eigener Sache auftreten oder zu hören sind.

Zerfusselte Grundidee

1979 wird Regisseur Alan Rudolph, zuvor Assistent von Regie-Genie Robert Altman, mit dem Projekt betraut. Thema: Ein Hobby-Bastler aus dem Hinterwald schafft es als Tüftler on the road bis auf die Bühne von New Yorks Konzerttempel Madison Square Garden. Dass Rudolph neben seinem eigenen Script drei weitere Drehbuchschreiber zur Seite gestellt bekommt, zerfusselt die Grundidee jedoch ein wenig.

Kompetente Entscheider
Für die Hauptrolle des Underdogs wird Meat Loaf gewonnen, der 1975 bereits als Eddie eine Nebenfigur im Kultfilm The Rocky Horror Picture Show gespielt hat. Als Sänger von Jim Steinmans und Todd Rundgrens Meisterwerk "Bat Out Of Hell" gelingt es ihm 1977, aus dem Schatten zum Weltstar aufzusteigen; trotz jahrelanger massiver Ablehnung durch Entscheider der Musikindustrie, die in der Komposition keinerlei kommerzielles Potenzial entdecken können, avanciert das Album zu einem der erfolgreichsten Millionenseller aller Zeiten. Meat Loaf ist in Roadie allerdings nicht als Sänger vertreten, sondern bleibt konsequent in seiner Rolle.

Am Ende steht ein aus etlichen Mini-Episoden bestehendes Roadmovie mit reichlich Holzhacker-Humor, wie es für Produktionen dieser Ära typisch ist. Seine Investoren dürfte es glücklich gemacht haben: Alleine in den USA werden für mehr als vier Millionen Dollar Tickets verkauft.

Bier mit Staubfahne

Die Story ist simpel gestrickt: Meat Loaf alias Travis W. Redfish kutschiert einen Bier-Laster durch Amerikas staubige Weiten. Glücklicherweise ist das Gebräu einer texanischen Marke auf der Ladefläche sein Lieblingsbier, weshalb er selbst unterwegs ähnlich viele Hektoliter Gerstentee schluckt wie sein Truck Diesel.

Rotbarsch trifft Fischsuppe

Auf einer seiner Lieferfahrten hilft er einer am Straßenrand gestrandeten Rockband auf die Beine und verliebt sich in deren Groupie Lola Bouillabaisse. Die Geschichte um Rotbarsch und Fischsuppe hält den Streifen zusammen. Lola ist vollkommen vernarrt in Alice Cooper. Travis sorgt dafür, dass sie den Meister des Schock-Rocks am Ende der gemeinsamen Reise ganz persönlich kennenlernen darf.

Bis es soweit ist, macht sich der Bierfahrer als Roadie nützlich. Der begeisterte Hobby-Erfinder löst selbst die unfassbarsten technischen Probleme und wird auf dem Weg zum Happy End als „bester Roadie der Welt“ gefeiert. Höhepunkt seiner Tätigkeit: Er rettet einen Auftritt von Debbie Harrys Band Blondie auf einem Open Air, indem er bei Stromausfall 137 LKW-Batterien miteinander verkabelt, ohne dass die Sicherungen rausfliegen.

Weit mehr als ein Juxfilm

Parallel kommt 1980 ein Soundtrack-Album heraus. Darauf vertreten sind illustre Namen wie Ray Orbison, der auch einen Auftritt im Film hat, Styx oder Pat Benatar. Die musikalischen Schwerpunkte liefern Cheap Trick mit der Bastler-Hymne "Everything Works If You Let It" und Alice Cooper mit dem Straßenfeger "Road Rats".

Alice Cooper erinnert sich auch Jahrzehnte danach gerne an die Drehtage von Roadie: „Es ist weit mehr als ein Juxfilm, weil er den Gedanken aufgreift, dass es ohne die Roadcrew niemals eine Show gibt. Für seine Zeit war es ein echt guter Rock’n’Roll-Film. Meat Loaf und ich sind seither befreundet. Wir haben nie den Kontakt zueinander verloren.“


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Bernie Taupin: kreuz und quer über die Insel

Viele brillante Künstler schaffen es nie nach oben. Ohne den Faktor Glück geht oft wenig. Selbst der gigantische Erfolg von Elton John und Bernie Taupin basiert auf einem irren Lotterie-Moment, Jackpot inklusive.

Die drei kreativsten Songwriting-Duos der Pop-Geschichte sind schnell aufgezählt: John Lennon/Paul McCartney (Beatles) und Björn Ulvaeus/Benny Andersson (Abba) sind klassische Musiker-Gespanne. Raketenmann Elton John und sein Texter Bernie Taupin fallen hingegen aus dem Rahmen. Nicht ein einziger ihrer zahlreichen Welthits ist entstanden, während sich die beiden im selben Raum aufgehalten haben.

1967 stolpern der 17-jährige Bernie, aufgewachsen auf einem abgelegenen Bauernhof, und der gerade eben drei Jahre ältere Pianist Reginald Dwight im Branchenfachblatt New Musical Express über eine Kleinanzeige der Plattenfirma Liberty Records. In London ist man auf der Suche nach talentierten Sängern und Songwritern. 

Ein hoffnungsloser Fall

Als der von seinen Showband-Jobs „mit einer mittelmäßigen Band“ frustrierte Dwight („Ich war drauf und dran, alles hinzuschmeißen und mir einen Job in einem Plattenladen zu besorgen“) eines Tages im Büro des Labels vorspricht, räumt er ein, keinerlei Händchen für Texte mitzubringen: „Ich bin ein hoffnungsloser Fall ...“

Liberty-Scout Ray Davies greift daraufhin hinter sich und zieht aus einem riesigen Stapel von Umschlägen blind den erstbesten Bewerber heraus. „Reg“ liest Bernies poetische Entwürfe auf dem Weg nach Hause in der U-Bahn und ist angetan: „Es war pures Schicksal“, betont er seither immer wieder. „Es hätte irgendjemand sein können, und mein Leben hätte sich vollkommen anders entwickelt.“

Straßen, Bier, Snooker

Auch Bernie, ein großer Verehrer von Bob Dylans Sprachkraft, weiß sein Glück im Nachhinein kaum zu fassen. In den beiden Jahren seit seinem Schulabschluss ist er, abgesehen von einem abgebrochenen Praktikum in einer Zeitungsredaktion und allerlei tristen Gelegenheitsjobs, kreuz und quer über die britische Insel getrampt, hat die örtlichen Brauerzeugnisse einer strengen Prüfung unterzogen und seine Spieltechnik am Snookertisch perfektioniert. „Ich hatte keine Ahnung von Songwriting und habe aus purer Verzweiflung einen Haufen psychedelischer Gedichte eingereicht, die man von Rechts wegen in den Müll hätte werfen sollen. Ich weiß nicht, was Ray Davies in ihnen gesehen hat …“

Bernie schreibt im Kinderzimmer
Die erste Zeit ist nicht einfach, schweißt die beiden Einzelgänger aber als unzertrennliche Freunde fürs Leben zusammen. Bernie erzählt der BBC 2018 in einem Radio-Interview: „Wir hatten musikalisch dieselbe Wellenlänge und waren wie Brüder. Elton hat sich Einziger nie darüber lustig gemacht, dass ich in der großen Stadt wie ein naives Landei gewirkt habe.“ 

Zu Beginn teilen sie sich ein Zimmer in Eltons Elternhaus und arbeiten unablässig an Songs. Bernie schreibt im Kinderzimmer, Elton lässt sich dazu am Klavier in der Wohnstube Musik einfallen. Eine streng getrennte Arbeitsweise, die für Jahrzehnte gleich bleiben wird.

Durchfall beim ESC

Schnell stehen sie auf der Lohnliste von Dick James, dem Musikverleger der Beatles. Bernie kriegt zehn, Elton 15 Pfund pro Woche. Aber ihr Ansatz, sich als Songwriter für Stars wie Tom Jones oder Engelbert Humperdinck zu etablieren, trägt keine Früchte, ebenso wenig ihre Komposition für die Vorausscheidung des 1969er ESC: "I Can’t Go On Living Without You", vorgetragen von der schottischen Sängerin Lulu, fällt beim Mainstream-Publikum durch.

Erst Eltons unbändiger Drang, sich kompromisslos unter eigener Flagge zu verwirklichen, bringt 1970 den Durchbruch – über den Umweg Kalifornien. Im „Troubadour“, auf der Bühne des legendären Singer/Songwriter-Clubs von Hollywoods Sunset Strip, geht Elton Johns Stern auf. Amerika scheint nur ihn gewartet zu haben.

Jimi Hendrix am Klavier
Der erste Nummer-eins-Hit "Your Song", produziert von David Bowies "Space Oddity"-Studioteam, erledigt den Rest. Reg Dwight ist endgültig Geschichte. Elton John katapultiert sich förmlich in die Charts und wird dank seiner spektakulären Shows mal als der Pop-Erbe von Klavier-Tier Jerry Lee Lewis gefeiert, mal als „Jimi Hendrix des Pianos“.

Bernie und Elton bleiben auch weiter in jeder Lebenslage gemeinsam unterwegs. „Innerhalb von vier Jahren aus dem Nichts an die Spitze mit sechs Millionen verkauften Alben – bis man aufgehört hat zu zählen“, wie eine amerikanische TV-Station Mitte der 1970er staunt.

Bernie ist während des rasanten Aufstiegs der stabilisierende Faktor in Eltons Leben zwischen ausverkauften Stadien, durchgeknallten Parties und Reisen im eigenen Flieger, einer zur Luxusbude umgebauten Boeing 707 namens Starship One: „Ich hab mich allerdings manchmal wie ein Groupie gefühlt, denn ich stand ja nie mit auf der Bühne.“

Beschallung im Aufzug
Bernie ist bewusst, dass er in der Musikwelt eine Sonderrolle genießt: „Kein anderer Songwriter meiner Art hat jemals so viel Anerkennung erfahren.“ Ein Teil seines Rezepts für Konzeptwerke mit gewitzten Titeln wie "Don’t Shoot Me I’m Only The Piano Player": „Wir machen Alben, und danach höre ich mir sie nie mehr an. Es sei denn, ich werde in irgendeinem Aufzug damit beschallt, was ziemlich häufig passiert.“

Seine Erfolgsformel ist letztlich einfach: „Ich verarbeite keine persönlichen Emotionen, sondern schreibe Stories nach der Art von Vorlagen für Filme. Das lag mir immer näher, als mein Innerstes nach außen zu kehren.“

Fünf Prozent Songwriting

 

Sein alleiniger Lebensinhalt ist das Ganze allerdings nicht, obwohl er zwischenzeitlich auch schon mal mit anderen Partnern – darunter Alice Cooper – zusammengearbeitet hat.  Der Wahl-Amerikaner ist mittlerweile selbst mit vier Alben als Sänger in Erscheinung getreten. Seit 2010 beschäftigt er sich zudem in seinem Atelier als Maler und Bastler mit der Umgestaltung amerikanischer Flaggen: „95 Prozent meiner Zeit bin ich mit meiner Kunst beschäftigt. Erst wenn Elton anruft, setze ich mich hin und schreibe für ihn. Rund ums Jahr würde mich das als tägliche Beschäftigung wahnsinnig machen.“


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The Scorpions: unbekannt in Schlagerland

Kleine Quizfrage zum Start: Welche Band konnte sich den Luxus leisten, innerhalb weniger Jahre mit Tokyo Tapes und World Wide Live gleich zwei üppige Doppel-Livealben herauszubringen, ohne auch nur einen einzigen Song doppelt aufzuführen?

In den Fußgängerzonen von Schlagerland weiß das praktisch niemand, doch unter Fans hochkarätiger Gitarrengewitter, die in den Siebzigern und Achtzigern von Hardrock- und Metal-Viren infiziert worden sind, liegt die Kennerquote höher.

Pioniere des Gitarrensports

Das gilt insbesondere für diejenigen, die selbst Rockmusik machen: Zahlreiche Hauptfiguren, selbst aus den härtesten Disziplinen des Gitarrensports, singen unaufgefordert Loblieder auf die Pioniertaten der Scorpions. 

In Finnland, Belgien oder Texas hätte man einer Formation, die mit Uli Jon Roth und Michael Schenker gleich zwei Gitarrenhelden der Mozart-Klasse hervorgebracht und dank eines riesigen Ohrwurmkatalogs weltweit Fußballstadien ausverkauft hat, längst eigene Quizsendungen gewidmet.

Mutproben auf der Insel

Vor allem die ersten beiden Livealben sind zentrale Dokumente des Aufstiegs der Scorpions. Die Band hat zu Beginn ihrer eigentlichen Gründung 1973, als die Gruppen der Gitarristen Rudolf Schenker und Uli Roth in Hannover verschmelzen, vor allem eines im Sinn: sich kompromisslos mit Eigenkompositionen zu verwirklichen. Rudolfs Ziel: ein Platz unter den Top 30 der hart rockenden Weltliga. 

Um dies zu erreichen, spielen sie als Mutproben sogar freiwillig Gigs auf dem für eine deutsche Band denkbar härtesten Pflaster, nämlich in Clubs auf der britischen Insel. Und sie ernten Respekt. Damit ist auch das Vorwärtskommen in der kritischen Heimat nicht mehr ganz so wichtig.

Öffentliche Aufregung

Die kompositorische Formel geht von Album zu Album besser auf. Auf jedem der ersten fünf Studiowerke stehen mehrere Klassiker; die Band wird weit über Deutschland hinaus für ihre griffigen Songideen wahrgenommen. Coverdesigns mit erotischer Note ('In Trance', 'Lovedrive') und schlicht untragbarer Motivwahl (das nackte Mädchen auf Virgin Killer), die laut Uli Roth auf die Initiative der Plattenfirma zurückgehen, sorgen zudem für reichlich künstliche Erregung in der Öffentlichkeit.

Furiositäten im Dauerhoch

Drei furiose Shows in Japan markieren 1978 Ulis Abschiedskonzerte, gekrönt von leidenschaftlichem Bombast ('We’ll Burn The Sky'), pulsierenden Hymnen ('He’s A Woman, She’s A Man') und Overdrive-Irrsinn ('Fly To The Rainbow'). Tokyo Tapes schafft es 1978 in den deutschen Albumcharts bis auf Platz fünf.

In den folgenden Jahren entwickelt sich der Himmelssturm zum Dauerhoch. Der Übergang gelingt nicht zuletzt dank des von UFO zurückgekehrten Michael Schenker, der 1979 maßgeblichen Anteil am Erfolg von Lovedrive hat, aber noch im selben Jahr mit der Michael Schenker Group in eine höchst erfolgreiche Solokarriere abbiegt.

Kontrollierte Offensive

Mit ihrem neuen festen Leadgitarristen Matthias Jabs zocken die Scorps auf Erfolgsalben wie Animal Magnetism (1980), Blackout (1982) und Love At First Sting (1984) von nun an die kontrollierte Offensive fürs Rock-Radio – mit riesigem Erfolg. Dazu  gehört auch eine energiereiche Liveshow und eine schier endlose Abfolge an Tourdaten, und zwar weltweit. 

Alleine die Live At First Sting betitelte Konzertreise läuft vom 23. Januar 1984 (Birmingham, UK) bis 7. Februar 1985 (Tokio, Japan) mit 124 Shows in Nordamerika, Westeuropa und Japan plus dem Riesenfestival Rock in Rio in Brasilien.
Als World Wide Live am 20. Juni 1985 erscheint, sonnen sich die Scorpions an der Spitze der Rock’n’Roll-Nahrungskette. Sie haben es planmäßig unter die größten Hard-Rock-Bands ihrer Ära geschafft.

Coole Säue

Auf World Wide Live sind sie deshalb längst durch und durch coole Säue, mit entspannten Groovern wie "The Zoo", "Loving You Sunday Morning" oder "No One Like You" und Knallbonbons der Sorte "Make It Real" oder "Blackout".

Die Tour nach Love At First Sting wird nicht gerade in gemütlichen Jugendzentren mitgeschnitten, sondern ausnahmslos in großen Hallen: Die Bandmaschinen von Produzent Dieter Dierks laufen im Pacific Amphitheatre von Costa Mesa in Kalifornien, in der Pariser Sporthalle Bercy, im Forum von Los Angeles, der Sports Arena in San Diego und der Kölner Sporthalle.

Dass die Band längst unter Rudolfs ersehnten Top 30 angekommen ist, belegt nicht zuletzt die Wahl ihres Fotografen: Kein Geringerer als Robert Ellis, der Weltmeister der Konzertfotografie, sorgt für die Schnappschüsse im Innencover des Doppelvinyls.

Vollerotischer Alltag

Parallel zum Kassensturz in den Plattenläden (alleine in den USA werden im Laufe der Jahre über zwei Millionen Exemplare von World Wide Live verkauft; selbst in Deutschland knackt das Album die Top 5) sind die Scorpions längst im Epizentrum des MTV-Universums gelandet. Der Musiksender zieht ihre Songs von da an in Dauerschleife, sogenannter „heavy rotation“, durchs 24-stündige Programm. 

"Rock You Like A Hurricane" passt in den vollerotischen Alltag des amerikanischen Imperiums trotz seines wackligen Clip-Schnitts wie der berühmte Arsch auf den Eimer. Bis zum Wind Of Change sind es noch vier Jahre. Aber dann wird ohnehin alles total anders.


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Accept: Urknall, blütenzart
Ohne künstlerische Kompromisslosigkeit wird es nichts mit einem Dauerparkplatz auf dem Olymp. Breaker ist 1981 der unüberhörbare Startschuss für die goldenen Jahre einer Band aus Solingen.

Der Titel des Werks ist bewusst gewählt. Breaker bedeutet im Jargon des Elektrikers „Unterbrecher“. Und exakt dies haben Accept im Dezember 1980 im Sinn, als sie bei klirrender Kälte im Studio ihres Produzenten Dirk Steffens anrücken: den Schalter umzulegen. Denn mit dem Vorgängeralbum I’m A Rebel ist die Band alles andere als glücklich. Von den Verantwortlichen ihres Krautrock-Labels Brain über lange Zeit massiv bedrängt, kommerziell verwertbare Songs zu liefern, sehen sie sich in einer Sackgasse aus netten, aber harmlosen Liedchen gefangen. Statt weiterhin als Schattenversion ihrer Labelkollegen Scorpions zu verblassen, entwickeln sie für Breaker eine radikale Mixtur mit sämtlichen Trademarks, die sie als Mitbegründer des metallischen Klassizismus berühmt machen sollen.

Poesie für Genießer

Im Kern des Albums steht ein Track mit dem herzigen Titel 'Son Of A Bitch'. Er ist inklusive blütenzarter Stichworte wie „asshole“ und „cocksucking motherfucker“ speziell dem Personal aus dem Artist & Repertoire-Büro von Brain gewidmet. Oder wie Sänger Udo Dirkschneider es ausdrückt: „Die Nummer war eindeutig gegen die Plattenfirma gerichtet.“ 

Bei Brain bleibt man gelassen und lässt den wütenden Klienten freien Lauf, besteht allerdings darauf, dass für moralisch empfindliche internationale Marktplätze eine abgemilderte Variante aufgenommen wird. Briten, Amerikaner und Japaner kommen daher in den Genuss des poetisch kaum weniger freundschaftlichen 'Born To Be Whipped'.

Ihr Lieblingsmaterial für die Bestückung der in Frage kommenden Peitschenschnüre durchzieht auch die optische Aufmachung des Albums. Auf dem Backcover findet sich eines der legendärsten Fotomotive der Metal-Geschichte: zwei aneinander gelehnte Flying-V-Gitarren, verknüpft mit rostfreiem Stacheldraht.

Messerscharf geschliffen

Der Erfolg von Breaker ruht neben Ohrwürmern wie dem Titelsong und Burning auf mehreren Säulen: In Wolf Hoffmann haben Accept einen Leadgitarristen von Weltklasse, in Udo einen Frontmann, dessen rostige Kettensägen-Stimme auf dem Planeten der Harten ähnlichen Kultstatus erringen wird wie das leiernde Geschnörgel von Ozzy Osbourne, und im Studio sitzen mit Dirk Steffens und dem ehemaligen Accept-Gitarristen Michael Wagener als Toningenieur gleich zwei Mischpult-Dirigenten von Format, die das Album in einen messerscharf geschliffenen Rahmen fassen. Für Wagener wird Breaker das Sprungbrett in eine unvergleichliche kalifornische Karriere: als Top-Producer diverser Stadion-Acts.

Vollkontakt mit der Zielgruppe

Gemanagt wird der Aufbruch von Hoffmanns späterer Gattin Gaby Hauke, die nach Abschluss der Aufnahmen im Januar 1981 zur Band stößt und die Jungs auf Anhieb als Supportact auf der Europatour von Judas Priest unterbringt. Dies beschert Accept den Vollkontakt mit der perfekten Zielgruppe. Die Basis für den endgültigen Durchbruch ist damit bereitet.

Alles, was danach kommt, ist buchstäblich Geschichte: Mit einer stabilen Besetzung nimmt die Band, deren turbulente Wanderjahre durch Jugendzentren und Kellerlöcher bis in die frühen 1970er zurückgehen, einen Klassiker nach dem anderen auf; zunehmend auch mit Gaby als Texterin und kreativer Direktorin im Hintergrund. Die stilprägenden Momente von Restless & Wild (1982), Balls To The Wall (1983) und Metal Heart (1985) machen Accept zur lebenden Legende.

Dennoch behält 'Son of A Bitch' auf den immer größer werdenden Welttourneen seinen Stellenwert in der Setlist. Auch auf dem Live-Dokument der Gipfeljahre, dem opulenten Doppelalbum Staying A Life von 1990, ist es zwischen Hymnen wie 'Neon Nights' und Krachern wie 'Fast As A Shark' selbstverständlich vertreten: als Symbol für ihren ganz persönlichen Urknall.

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